Kinderlosigkeit in der Diktatur des Anspruchs

Eine Studie untersucht die Entscheidung, sich nicht fortzupflanzen und den Wunsch nach sozialer Akzeptanz.

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Jennifer Waltling Neal und Zachary P. Neal lehren an der Fakultät für Psychologie der amerikanischen Michigan State University. Die beiden Professoren haben vor kurzem die Ergebnisse einer Studie veröffentlicht, die mit rund tausend Erwachsenen in Nordamerika durchgeführt wurde. Ziel der Untersuchung war es, die wichtigsten Merkmale der so genannten childfree Bevölkerung – d. h. der Personen, die keine Kinder haben und sie sich auch nicht wünschen – sowie die Unterschiede zu den Personen, die keine Kinder haben können (als childless definiert), den Personen, die bereits Eltern sind, und den Personen, die sich vorstellen können, in Zukunft Eltern zu werden, herauszustellen.

Tatsächlich beschäftigen sich Psychologen und Soziologen bereits seit den 1970er Jahren mit dem Thema der kinderlosen Erwachsenen, die, nebenbei gesagt, die Epoche der so genannten sexuellen Befreiung und der Umwälzung der traditionellen Familie miterlebt haben. Eine maßgebliche, von Time herausgegebene Publikation der Journalistin und Autorin Lauren Sandler aus dem Jahr 2013 mit dem Titel None is Enough: Why Americans are Choosing Not to Have Children bietet einen sehr ausführlichen Überblick über die Gründe, weshalb sich die Amerikaner dafür entscheiden, „keine Kinder zu bekommen“.

Der Hauptunterschied zur aktuellen Studie besteht in der Differenzierung zwischen der Personengruppe, die sich tatsächlich gegen Kinder entscheidet, und einer zweiten Personengruppe – zusammengesetzt aus Erwachsenen, die bereits Kinder haben, oder die planen, in Zukunft Kinder zu bekommen, oder die aus Gründen der Unfruchtbarkeit keine Kinder bekommen können. Mit anderen Worten, der entscheidende Faktor ist der fehlende Kinderwunsch bzw. die bewusste Entscheidung, keine Kinder zu bekommen, was aus anthropologischer Sicht von großer Bedeutung ist.

Die Studie mit dem Titel Prevalence and characteristics of childfree adults in Michigan (USA) (zu Deutsch: Verbreitung und Merkmale kinderloser Erwachsener in Michigan) greift die Erkenntnisse zur demografischen Krise in den USA und anderen westlichen Industrieländern auf und bietet ein Bild, das selbst die Autoren zu überraschen scheint: 27 %, sprich mehr als ein Viertel, der in dem nordamerikanischen Bundesstaat lebenden Erwachsenen bezeichnen sich selbst als childfree und geben an, dass sie weder gegenwärtig noch in Zukunft Kinder haben wollen.

Wenn man bedenkt, dass Michigan ein sehr repräsentativer US-Bundesstaat ist, was ethnische Zugehörigkeit, Alter, Einkommen und Bildung im gesamten Land anbelangt, und dass 35 % der fast 2 Millionen childfree  Bevölkerung in einer festen Beziehung leben, lässt sich daraus ableiten, dass es unter ihnen eine große Anzahl von Familien mit untypischen Merkmalen gibt.

Die Untersuchung geht dann der Frage nach, ob es signifikante Unterschiede zwischen childfree Personen und Eltern bzw. künftigen Eltern gibt. Das Ergebnis zeigt, dass es im Wesentlichen keine Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Gruppe in Bezug auf die life satisfaction gibt, d. h. den Grad der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben, und nur einen mäßigen Unterschied in Bezug auf Persönlichkeitsmerkmale und politische Ideologie.

Laut Studie sind insbesondere diejenigen, die keine Kinder wollen, liberaler als diejenigen, die bereits Eltern sind oder Eltern werden wollen. Dies ist keine belanglose Randnotiz. In den Ergebnissen ihrer Untersuchung stellen die Autoren fest, dass „[…] liberalere Menschen sich eher dafür entscheiden, keine Kinder zu bekommen, um gleichberechtigtere Geschlechterrollen zu unterstützen oder zu verwirklichen; oder aus Sorge um die Umwelt, in dem Bewusstsein, dass die Entscheidung, keine Kinder zu bekommen, die wirksamste individuell ergreifbare Maßnahme zur Reduzierung der Kohlenstoffemissionen ist“. Schockierend, aber leider wahr, wie iFamNews bereits berichtete.

Die beiden Professoren befassen sich dann mit einer weiteren wichtigen Frage: ob die Gruppe der childfree eine outgroup darstellt, d. h. ob sie als eine eigene Gruppe wahrgenommen und möglicherweise mit Argwohn, Unbehagen oder Missbilligung betrachtet wird. Mit anderen Worten: Gibt es eine Art soziales Stigma, das dazu führt, dass Menschen mit Kindern denen, die keine Kinder wollen, weniger wohlgesonnen sind als kinderlose Menschen untereinander? In diesem Fall scheint die Antwort der beiden Forscher, dies zu bestätigen. Es bleibt jedoch zu klären, ob die implizite Solidarität unter den Kinderlosen nicht eine Art „Kaste“ oder Lobby darstellt, die – wie es oft der Fall ist – besondere „Rechte“ einfordert.

Die italienische Ausgabe von Vanity Fair, dem wöchentlichen Magazin zu Zeitgeschehen, Trends, Mode und Schönheit der Condé-Nast-Gruppe, greift das Thema in seinen sozialen Netzwerken auf. Auf dem Instagram-Profil der Zeitschrift findet man diesbezüglich äußerst interessante Kommentare.

Zahlreiche Follower betonen, dass die Entscheidung, keine Kinder zu bekommen, etwas sehr Persönliches ist (hoffentlich ist sich das jeweilige Paar darüber einig, denn ansonsten ist großes Unglück und ein Scheitern so gut wie sicher) und in jedem Fall ein Recht des Einzelnen darstellt.

Einige sprechen das absehbare Risiko an, dass man die Entscheidung, keine Kinder zu bekommen, später in einem Alter bereut, in dem es nicht mehr möglich ist, welche zu bekommen. Es sei denn, man zieht die Option der „Leihmutterschaft“ in Betracht.

Andere wiederum meinen, dass „[…] Kinder eine wunderbare Bereicherung für Paare, aber keine Voraussetzung sind, um als Familie bezeichnet zu werden oder um sich vollständig zu fühlen“. Außerdem besteht immer die Möglichkeit, sich einen Hund zuzulegen.

Manche beschweren sich über die finanzielle Belastung einer Elternschaft, die für viele untragbar erscheint, bzw. über die, wenn man so will, ideellen Kosten; diese ergeben sich aus dem Verzicht der Frau auf eine uneingeschränkte berufliche Selbstverwirklichung oder auf ein Leben nach ihren spontanen Wunschvorstellungen.

Wieder jemand anderes ist empört darüber, dass sogar im Jahr 2021 Menschen immer noch danach beurteilt werden, ob sie sich für oder gegen das Kinderkriegen entscheiden (naja, die Gefahr wäre sonst das Aussterben unserer Art…).

Schließlich heißt es in einem Kommentar bezeichnenderweise, „[…] dass nicht jede individuelle Entscheidung gleich zu einer ganzen sozialen Bewegungen führen muss“ und bekommt dafür 173 Likes. Wie war das noch mal? Ah, ja das ist es: die Diktatur des Anspruchs.

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