Nicht nur die großen deutschen Landeskirchen werden von den Anfragen und dem Leid gleichgeschlechtlich empfindender Menschen in ihren Gemeinden herausgefordert. Auch die (freien) evangelikalen Gemeinschaften ringen bei der Frage um die Bewertung und den Umgang mit gleichgeschlechtlichen Handlungen darum, Jesu Anspruch an ein Leben nach seinem Gebot und die Einheit der Gemeinde zu bewahren.
Mit „Evangelikale und Homosexualität. Für eine Kulturreform“ legt Johannes Traichel, Theologe und Pastor einer freien evangelischen Gemeinde, ein Buch vor, welches nicht nur Wege aus der „großen Belastungs- und Zerreißprobe“ der evangelikalen Einheit weisen möchte, sondern vor allem für eine Kulturreform wirbt, welche die sexuelle Doppelmoral überwindet und evangelikale Gemeinden für gleichgeschlechtlich empfindende Menschen zu einem Raum der Sicherheit und Geborgenheit macht. Davon können nicht nur evangelikale Gemeinschaften, sondern alle christlichen Denominationen profitieren.
Für eine Kulturreform
Im ersten Kapitel, das mit dem Buchtitel überschrieben ist, führt Traichel in die Thematik ein und konstatiert, dass bis heute nicht sicher wissenschaftlich erklärt werden kann, wie und warum manche Menschen gleichgeschlechtliche Anziehung empfinden. Gleichwohl kann festgestellt werden, dass monokausale Ansätze wie das „Schwulen-Gen“ längst widerlegt sind. Der Theologe arbeitet weiter heraus, dass sich bei der Frage der normativen Bewertung gleichgeschlechtlicher Handlungen Vertreter einer progressiven/revisionistischen Sichtweise und einer traditionellen Sichtweise gegenüberstehen. Die erste nimmt in Anspruch, dass gleichgeschlechtliche Handlungen von Gott nicht verboten, sondern mindestens gebilligt werden. Die zweite hält daran fest, dass alle sexuellen Handlungen außerhalb der Mann-Frau-Ehe sündhaft sind.
Die folgenden Kapitel zwei (Bibel und Homosexualität) und drei (Ethik, Bibel und Zeitgeist) bilden den inhaltlichen Schwerpunkt des Buches.
Die Auseinandersetzung mit Schrift und Ethik
So werden im zweiten Kapitel die klassischen Belegstellen der Bibel in Bezug auf Homosexualität sowie ihre verschiedenen exegetischen Deutungen betrachtet. Akribisch und detailliert wird für den Leser nachgezeichnet, dass keine einzige Schriftstelle praktizierte Homosexualität positiv darstellt; vielmehr werden jene Aussagen, die praktizierte Homosexualität primär betreffen, als sündig und negativ bewertet. Das biblische Leitbild ist Sexualität innerhalb einer heterosexuellen Ehe, alle anderen Deutungen scheitern am exegetischen Befund. Ergänzt wird die Schriftlese durch einen Exkurs zur Sexualität in der historischen Umwelt des Neuen Testaments.
Im anschließenden dritten Kapitel wird auf Grundlage einer auf dem biblischen Ergebnis begründeten christlichen Ethik Antwort auf die Fragen der gegenwärtigen Kultur gegeben: Kann Orientierung, Veranlagung oder Identität überhaupt Sünde sein? Wenn homosexuelle Praktik nicht schadet, muss sie dann nicht erlaubt sein? Das Buch präsentiert auch hier begründeten Einspruch von traditioneller Seite.
In den folgenden Kapiteln wirbt Pastor Traichel deshalb für eine Kulturreform in evangelikalen Gemeinden, die gleichgeschlechtliche empfindenden Menschen ihren festen Platz und echte Annahme in den Gemeinden geben möchte, um ihnen den Weg zur Annahme der christlichen Sexualethik und der persönlichen Heiligung zu zeigen. Gleichzeitig arbeitet der Theologe mit Verweis auf den Theologen Heinzpeter Hempelmann heraus, dass die Frage nicht nur die christliche Ethik berührt, sondern sich an ihr vielmehr eine theologische Stellvertreterdebatte entscheidet. Denn tatsächlich wird verhandelt, ob das Empfinden des Menschen der Heiligen Schrift ihre Autorität als Quelle göttlicher Offenbarung streitig macht. Hier zeigt sich die große Parallele zum Prozess des Synodalen Wegs in der Katholischen Kirche, wo auf ähnliche Weise das Lehramt der Kirche angegangen wird.
Auch Betroffene kommen zu Wort
Traichels Buch gelingt es so mit seinen mehreren hundert Belegen auf rund 300 Seiten, eine fundierte Apologie der traditionellen christlichen Sexualethik aus evangelikaler Perspektive zu formulieren.
Mehrfach kommen auch gleichgeschlechtlich empfindende Menschen zu Wort, die sowohl von ihren negativen als auch positiven Erfahrungen in evangelikalen Gemeinden berichten. Exemplarisch berichtet David Bennett, ein ehemaliger Schwulenaktivist, heute zölibatär lebender Christ, wie er durch sein gleichgeschlechtliches Empfinden den Sinn seines Lebens gefunden hat. Sein Zeugnis soll als Einladung auch an alle gleich empfindenden Menschen diese Buchrezension beschließen:
„Lange Zeit hat man mir eingeredet, mein Menschsein sei durch meine sexuellen Wünsche definiert. Aber als Christ habe ich gelernt, dass es in Gottes Augen etwas Kostbares ist, wenn wir uns ihm ganz hingeben und ihm unsere gleichgeschlechtlichen Neigungen anvertrauen. Das hilft uns, zu erkennen, dass er unser größter Schatz ist, nach dem wir uns in Wirklichkeit sehnen. Das Ziel unseres Lebens ist nicht, die Erwartungen unserer Kultur zu erfüllen und unsere eigenen Wünsche und Bedürfnisse anzubeten, sondern Jesus nachzufolgen und Gott anzubeten. Ich habe einen Teil von mir aufgegeben. Aber dafür habe ich mein ganzes Menschsein gefunden.“
Johannes Traichel: Evangelikale und Homosexualität. Für eine Kulturreform, jOTA Publikationen GmbH, 2022.
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