Last updated on Dezember 3rd, 2021 at 04:57 am
iFamNews: Der Papst bezeichnet die Abtreibung als „Mord“ und die Abtreiber als „Mörder“ und sogar als „Auftragskiller“. Dies sind die schärfsten Worte, die das päpstliche Lehramt je verwendet hat. Es handelt sich um eine ernste moralische Angelegenheit, und seine Worte wurden mehrfach wiederholt, sie scheinen von größter Bedeutung zu sein; sie werden sogar als „unfehlbar“ gehandelt. Könnten Sie seine Äußerungen kommentieren?
Kardinal Müller: Auch in der Vergangenheit wurde die Tötung eines Kindes im Mutterleib als Mord bezeichnet. Das II. Vatikanum sprach von einem verabscheuungswürdigen Verbrechen. Die erstaunliche Klarheit, mit der Papst Franziskus diese unmenschliche Grausamkeit gegenüber einem lebendigen Menschen im Anfang seines leiblichen Daseins, beim Namen nennt, müsste die Politiker und Ideologen zur Umkehr bewegen, die Abtreibung als Mittel ihrer Umwelt- und Überbevölkerungstheorien benutzen.
iFamNews: Papst em. Benedikt XVI. sprach bekanntlich von einer „Diktatur des Relativismus“. Trifft dies mehr als ein Jahrzehnt später immer noch auf die Gesellschaft zu? Was sehen Sie für die nahe Zukunft in Bezug auf diese Diagnose?
Kardinal Müller: Die „Cancel Culture“ mit ihrem absoluten Kontrollwahn über das Denken, Sprechen und Handeln jedes einzelnen Menschen ohne Ausnahme ist doch nur die menschenverachtende Umsetzung dieser Diktatur des Relativismus. Allerdings war die Relativierung der Wahrheitsorientierung jedes geschaffenen Geistes nur das Vorspiel zu einem globalistischen Totalitarismus eines Willens zur Macht. In seinem Abgrund lauert der Nihilismus als die Mutter aller Barbareien des antichristlichen Menschenbildes mit der Negation des Seins als Gleichnis Gottes. Faschismus und Sowjetkommunismus waren nicht Relikte eines vorneuzeitlichen Weltbildes, sonder Produkte eines Humanismus ohne Gott und Vorboten der Hölle des Transhumanismus, d,h. Menschen ohne Seele, ein technisches Produkt, das störungsfrei funktioniert, aber nicht denkt, fühlt, hofft und liebt.
iFamNews: Welche Rolle spielt die katholische Kirche in dem andauernden Kulturkampf? Wie kann sie sich wirksam auf die Seite der Menschen – auch der Politiker – stellen, die für eine gute Sache kämpfen, ohne sich in die Dialektik und Rhetorik der Politik zu verstricken?
Kardinal Müller: Wir dürfen nicht in die Falle des Konservativ-progressiv-Schemas tappen. Gewiss schreitet der Mensch immer voran, weil seine Augen nach vorne gerichtet sind. Es ist aber seine Erkenntnis und Entscheidung, in welche Richtung er nach vorne gehen will. Gott ist Ursprung, Sinn und Ziel allen geschaffenen Seins. Der Sohn Gottes hat das Geheimnis seiner Person, in der seine Gottheit und Menschheit vereinigt sind geoffenbart, indem er sprach: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben (Joh 14, 6). Wo Christus ist, das ist der Fortschritt in die richtige Richtung. Er ist der modernste Mensch. Das absolut Neue, das er gebracht hat, ist nicht zu überholen. Wer mit ihm seinen Lebensweg geht, ist der modernste Mensch, weil wir durch die Taufe auf seinen Namen, des Sohnes vom Vater und Gesalbten des Heiligen Geistes, zu einer neuen Schöpfung geworden sind, die niemals veraltet und überholt werden kann. Wir können allenfalls dahinter zurückfallen und durch die Sünde vom ewigen Tod, des Kältetodes der Liebe, eingeholt werden.
iFamNews: Welche Bedeutung messen Sie der Familie als Kerninstitution der Gesellschaft bei?
Die Ehe eines Mannes mit einer Frau ist Ausdruck des liebenden Schöpferwillens Gottes. Die Eltern nehmen mit der Zeugung, der Schwangerschaft, der Geburt und Erziehung ihrer Kinder am Heilswillen Gottes zu diesen vor Ewigkeit her geliebten Söhnen und Töchtern Gottes kreativ Teil und bezeugen damit die Gutheit der Schöpfung und die Vorherbestimmung jedes Menschen zum ewigen Leben, das jeder Einzelne aber in freiem Willen annehmen muss.
iFamNews: Wenn die jüdisch-christliche Anthropologie und Weltanschauung aus der Gesellschaft entfernt wird, scheint sie immer durch zunehmend totalitäre Maßnahmen ersetzt zu werden: a) stimmen Sie dem zu? b) Warum ist das so? c) Wie können wir diesen Prozess aufhalten?
Kardinal Müller: Dies ist kein naturnotwendig ablaufender Prozess. Das Verhängnis des neuzeitlichen Atheismus ist das Ergebnis von Denkfehlern in der Philosophie und Theologie. Bei der Ausbreitung des Christentums wurde das Heidentum überwunden mit der Anknüpfung an die Wahrheitssuche in der großen Philosophien der Antike durch die höhere Einsicht in den Logos des personalen Gottes, der sich in der Geschichte Israels und zuletzt in Seinem Wort , in Jesus Christus offenbarte.Wir sollen nicht fatalistisch auf die Entchristlichung des gesellschaftlichen Bewusstseins schauen wie das Kaninchen vor der Schlange.
Es kommt auf die Stärke unseres Glaubens und die Kraft des theologischen Logos an, ob dem Zeugnis der apostolischen Kirche und der einzelnen Christen Überzeugungskraft innewohnt. Auch als numerisch kleine Herde sind wir in Christus Zeichen und Werkzeug des universalen Heilswillens Gottes, der will dass alle Menschen selig werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen (1 Tim 2,4). Das Licht Christ ist in der Dunkelheit der Gottferne aufgeleuchtet und ist nicht ein Licht neben anderen Lichtern. Bitten wir für alle um die Gnade, dass sie Christus erkennen als das Licht der Welt und dadurch ihre göttliche Berufung ergreifen. Denn das Ziel des Lebens besteht darin, dass wir uns als Kinder Gottes verstehen und im Heiligen Geist zu Freunden Gottes werden.
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