Ist die Medizinethik passé? Das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen bedroht

Die angekündigte Überarbeitung des Internationalen Kodex für ärztliche Ethik zielt darauf ab, die Verweigerung aus Gewissensgründen abzuschaffen.

Im April dieses Jahres kündigte der Weltärztebund – der Dachverband der nationalen Gesundheitsorganisationen – eine Überarbeitung des Internationalen Kodex für Medizinische Ethik (ICoME) an in Ergänzung der Genfer Erklärung.

Die Genfer Erklärung wurde 1948 verabschiedet, unmittelbar nachdem die Öffentlichkeit die Wahrheit über den massiven Missbrauch von Erkenntnissen in der Medizin (sowie alllgemein in den Wissenschaften) während des Zweiten Weltkriegs erfuhr. Sie lehnt sich an die historischen Leitlinien des Hippokratischen Eids an und wurde schon bald als der „moderne hippokratische Eid“ bekannt. Ein Jahr später wurde auch der dazugehörige Internationale Kodex für Medizinethik beschlossen.

Von 1947 bis heute wurde die Genfer Erklärung fünfmal überarbeitet. Ursprünglich enthielt sie folgenden Satz:

„Ich werde den höchsten Respekt vor menschlichem Leben von der Empfängnis an wahren (…).“

Im Jahr 1983 wurde der Begriff „Empfängnis“ durch den Begriff „Beginn“ ersetzt, der sehr viel ungenauer und daher Raum für unterschiedliche Interpretationen läßt. Im Jahr 2005 wurde das Wort „Beginn“ jedoch gestrichen, so dass der Satz heute einfach lautet:

„Ich werde den höchsten Respekt vor menschlichem Leben wahren.“

Nur zwanzig Jahre und zwei Änderungen später ist ungeborenes menschliches Leben systematisch aus dem modernen hippokratischen Eid entfernt worden. Die Erklärung geht eindeutig in eine Richtung, die in eklatantem Widerspruch zu den Grundsätzen der Entwicklung der angewandten Ethik steht, nämlich den Geltungsbereich der Ethik einzuschränken, nicht ihn auszuweiten.

Die angekündigte Überarbeitung des ICoME zielt nun darauf ab, die Verweigerung aus Gewissensgründen von Medizinern abzuschaffen. Die Verweigerung aus Gewissensgründen ist durch eine Reihe internationaler Abkommen geschützt. In Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es:

„Jeder Mensch hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, in der Öffentlichkeit oder privat, durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Vollziehung von Riten zu bekunden.“

Ebenso enthalten Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention nahezu gleichlautende Sätze. Die meisten Staaten garantieren das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen ausdrücklich in ihren jeweiligen Landesgesetzen. In den USA wird die Verweigerung aus Gewissensgründen durch einzelne Gesetze der Bundesstaaten, aber auch durch Gesetze wie die Church, Coats-Snowe und Weldon Amendments garantiert.

Die vorläufige Fassung des Internationalen Kodex für Medizinische Ethik des Weltärztebundes sieht vor, dass der Arzt, der eine Leistung aus Gewissensgründen verweigert, den Patienten an einen anderen Arzt verweisen muss, der seinerseits kein Problem damit hat, brutale medizinische Praktiken wie Abtreibung, Euthanasie, Sterbehilfe und Ähnliches durchzuführen.

In Serbien ist die Verpflichtung zur Überweisung an einen anderen Arzt bereits in Artikel 63 des Kodex für medizinische Ethik der serbischen Ärztekammer festgelegt. Doch während die entsprechende Bestimmung in der vorgeschlagenen Fassung des ICoME allgemein gehalten ist, bezieht sie sich die serbische Bestimmung ausschließlich auf die Verweigerung aus Gewissensgründen in Hinblick auf Abtreibung. Artikel 156 des serbischen Gesetzes zur Gesundheitsvorsorge enthält keine derartige Klausel. Laut diesem Gesetz ist die medizinische Einrichtung im Falle einer Verweigerung aus Gewissensgründen eines ihrer Angestellten verpflichtet, die „Dienstleistung“ Abtreibung zu erbringen.

Die Vorschrift, dass ein Verweigerer aus Gewissensgründen den Patienten an einen anderen Arzt verweisen muss, stellt an und für sich schon eine Gewissensverletzung des verweigernden Arztes dar. Denn dadurch wird er zum Komplizen bei der Durchführung einer fragwürdigen Praxis, die den Sinn der Verweigerung aus Gewissensgründen praktisch zunichte macht. Mit anderen Worten, diese Verpflichtung schließt die Unmöglichkeit der Autonomie des Gewissens des Einzelnen in die normative Ontologie dieser Handlung ein.

Darüber hinaus werden auf diese Weise systematisch alle denkbaren fragwürdigen Praktiken, die bereits legalisiert wurden oder noch legalisiert werden könnten, zur Norm erhoben, und die Verweigerung aus Gewissensgründen wird in den Bereich einer sinnlosen, selbstgenügsamen Moralisierung verbannt. Die Einführung der Verweigerung aus Gewissensgründen war nie als Selbstzweck oder als ein Akt selbstgenügsamer Moralisierung gedacht, sondern als eine Maßnahme, die individuelle moralische und berufliche Würde effektiv in einen Hebel ethischer Politikgestaltung umzuwandeln, und nicht andersherum.

Durch die Aufnahme einer solchen Bestimmung in den internationalen Kodex wird die Legalität bestimmter Praktiken in der nationalen Gesetzgebung über die universellen ethischen Grundsätzen des Berufsstandes gestellt, welche gemäß dem Leitgedanken sowohl des ursprünglichen als auch des modernen hippokratischen Eides eigentlich unabhängig von politischen Zwängen sind.

Rechtlich gesehen handelt es sich bei einer solchen Bestimmung um einen gewaltsamen Übergriff des individuellen Rechts auf Fragen der Grundfreiheiten und -rechte. Sobald das Dokument ratifiziert ist, werden die durch internationale Rechtsübereinkommen garantierten Grundfreiheiten und -rechte in Bezug auf das individuelle Recht rechtsverbindlich. Die Rechte und Freiheiten aus Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (der sich auf die Gedanken-, Religions- und Gewissensfreiheit bezieht) können nur dann gesetzlich eingeschränkt werden, wenn die öffentliche Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Moral oder die Grundfreiheiten und -rechte anderer verletzt werden. Dies ist der Grund, warum die Abschaffung der Verweigerung aus Gewissensgründen untrennbar mit den Bemühungen verbunden ist, Abtreibung als Gesundheitsleistung durchzusetzen. Denn wenn sich eine solche Auffassung von Abtreibung durchsetzt, wird es möglich sein, das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen abzuschaffen oder einzuschränken.

Globale Agenda für die Normierung von Gewalt in der Medizin

Wenn also das Rechtssystem und die institutionalisierte Ethik die Auffassung akzeptieren und umsetzen, wonach Abtreibung eine Gesundheitsleistung darstellt, müssen wir auch die ebenso absurde These akzeptieren, dass die Verweigerung aus Gewissensgründen eine Verletzung der Menschenrechte darstellt, da zu den Menschenrechten auch das Recht auf Gesundheitsfürsorge gehört.

Diese Agenda begann einige Jahre vor den oben erwähnten jüngsten Entwicklungen im Bereich der Medizinethik ernsthafte Ausmaße anzunehmen.

Im Sommer 2018 veröffentlichte eine Gruppe von Aktivisten, Medizinern, Wissenschaftlern und Juristen aus 22 Ländern einen Bericht mit dem Titel „Skrupellos: Wenn Gesundheitsdienstleister Schwangerschaftsabbrüche verweigern“ [engl. Originaltitel: Unconscionable: When Providers Deny Abortion Care]. Das Dokument stellt die Verweigerung aus Gewissensgründen in der Medizin in einem sehr negativen Licht dar. Der 40-seitige Bericht ist in einem äußerst panikmachenden Ton geschrieben und rechtfertigt den Begriff der Abtreibung als Gesundheitsleistung, indem er Grenzfälle der Praxis als Beispiele und die Ideologie des „Rechts auf freie Wahl“ als Argument heranzieht. Es wird auch eine ‚softe‘ Form der Verweigerung aus Gewissensgründen vorgeschlagen, und zwar mit der Umformulierung des Begriffs in „Verweigerung einer Dienstleistung“.

Zwei Monate nach diesem Bericht und der begleitenden Lobbyarbeit seiner Autoren bei internationalen Institutionen veröffentlichte der UN-Menschenrechtsausschuss im Oktober 2018 die Allgemeine Bemerkung Nr. 36 zum Recht auf Leben. Die Bemerkung wurde sofort von Abtreibungsbefürwortern auf der ganzen Welt gelobt, die versuchten, sie als endgültigen Beweis dafür anzupreisen, dass Abtreibung mit dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und den Menschenrechten absolut in Einklang steht. Einige behaupteten sogar (und tun dies immer noch), dass mit dieser Bemerkung die Abtreibung ausdrücklich in die Liste der Menschenrechte aufgenommen wurde. Dies stimmt natürlich nicht, und selbst wenn es so wäre, hätte ein solcher Schritt keine Wirkung, da der Ausschuss nicht befugt ist, neue Teile des Übereinkommens anzunehmen.

In dieser Bemerkung griff der Ausschuss strategisch den weit gefassten Begriff des Schwangerschaftsabbruchs auf (der sowohl die elektive Abtreibung als auch Verfahren zur Beendigung von Eileiterschwangerschaften und die eingeleitete Geburt eines nicht lebensfähigen Fötus umfasst) und rückte ihn mit beunruhigender Rhetorik näher zu den Menschenrechten. Dies gelang, indem bestimmte nicht-selektive Gründe für eine Abtreibung – wie der Schutz des Lebens der Mutter – mit dem Menschenrecht auf Leben in Verbindung gebracht wurden, obwohl die Zahl der Fälle, bei denen es medizinisch notwendig ist, einem Baby das Leben zu nehmen, anstatt eine Lebendgeburt herbeizuführen, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, bekanntermaßen fast Null sind; und obwohl die Müttersterblichkeitsrate in Ländern, die Abtreibung verbieten (z. B. Irland vor der Legalisierung, Polen und Malta) gleich hoch oder sogar niedriger ist als die durchschnittliche Sterblichkeitsrate von Müttern in ganz Europa. Die implizite Grundlage, auf die sich dieses Argument stützt, ist schlicht und einfach die Einstufung der Abtreibung als Gesundheitsleistung. An einigen Stellen hat der Ausschuss die fehlende Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs sogar mit einem Verstoß gegen Artikel 7 des Pakts über bürgerliche und politische Rechte in Verbindung gebracht, der sich auf Folter bezieht, ohne jedoch konkrete Beispiele zu nennen oder die Kriterien festzulegen, so dass bewusst Raum für Interpretationen geschaffen wurde. Schließlich warf der Ausschuss erwartungsgemäß die Frage der Verweigerung aus Gewissensgründen auf, die er als potenzielles Hindernis für die Ausübung der gesetzlichen Rechte und Grundfreiheiten bezeichnete.

Damit begann die bisher deutlichste Kampagne zur Aufnahme des Schwangerschaftsabbruchs in die Gesundheitsfürsorge und zur Auflösung der Verweigerung aus Gewissensgründen.

Sobald die Verweigerung aus Gewissensgründen durch die Ideologie der Abtreibung ausgehebelt wird, verliert sie auch in Bezug auf andere Praktiken medizinischer Gewalt wie Euthanasie, assistierten Suizid und andere damit verbundene „Dienstleistungen“ völlig an Bedeutung.

Koordinierte Strategie in Europa und den USA

Noch nie zuvor wurde die Verweigerung aus Gewissensgründen in Europa und den Vereinigten Staaten derart attackiert wie im Jahr 2021.

Im März dieses Jahres verabschiedete der US-Kongress den Equality Act 2021. Zwei Monate später, im Mai, nahm das Europäische Parlament den Matić-Bericht an. Beide Dokumente fördern, jedes auf seine Weise, die Agenda der Abtreibung als Gesundheitsversorgung und der Verweigerung aus Gewissensgründen als Verletzung der Menschenrechte. Beide tun dies unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Diskriminierung, indem sie die Grenze zwischen wichtigen Gleichstellungsfragen und radikalen Trends in der Identitätspolitik verwischen.

Die Strategie des amerikanischen Equality Act von 2021 besteht darin, die Definition von Sexualität und Genderfragen („Geschlecht“) auf Abtreibung auszuweiten. Auf diese Weise wird jede Verweigerung aus Gewissensgründen in Bezug auf Fragen der reproduktiven Gesundheit zu einer unrechtmäßigen Diskriminierung.

Der Matić-Bericht hingegen geht von der Vorstellung aus, dass es sich bei der Abtreibung um eine Gesundheitsleistung handelt, und ist voll von Verweisen auf voreingenommene Forschungsarbeiten wie spekulative Studien der Mitarbeiter des Guttmacher-Instituts, des ehemaligen Forschungszweigs von Planned Parenthood, über die Unwirksamkeit von Abtreibungsverboten und die Verbreitung unsicherer Abtreibungen, die fast alle aktuellen Argumente für die Förderung von Abtreibung in internationalen Dokumenten untermauern. Der impliziten These folgend, dass Abtreibung Gesundheitsfürsorge ist, greift der Matić-Bericht explizit das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen an, wobei dieser Begriff – nach dem Beispiel des 2018 veröffentlichten Berichts „Skrupellos: Wenn Gesundheitsdienstleister Schwangerschaftsabbrüche verweigern“ – durchgängig in Anführungszeichen verwendet wird.

Im Mai 2021 strich US-Präsident Biden das Weldon Amendment aus dem Haushaltsvorschlag für das Ministerium für Gesundheit und Soziales. Das Weldon Amendment stellt sicher, dass Einrichtungen und Personen, die aus Gewissensgründen verweigern, keine staatlichen Mittel entzogen werden. Erfreulicherweise geben die jüngsten Entwicklungen Anlass zur Hoffnung, denn der Senat hat vor kurzem dafür gestimmt, das Weldon-Amendment wieder in den Bundeshaushalt aufzunehmen. Auch gibt es Anzeichen dafür, dass die Entscheidung Roe v. Wade vom Obersten Gerichtshof der USA revidiert werden könnte.

Leider sieht es in Europa nicht so rosig aus. Polen und Malta, die einzigen beiden europäischen Länder, in denen Abtreibung illegal ist, stehen unter massivem Druck der EU-Institutionen. Das Gleiche gilt für Ungarn, dessen Verfassung aus dem Jahr 2012 den Schutz des menschlichen Lebens von der Empfängnis an garantiert, obwohl das Abtreibungsgesetz dort immer noch in Kraft ist und Wahlabtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche (unter bestimmten Bedingungen bis zur 24. Woche) zulässt.

Einige Länder, wie Italien und seit kurzem auch Kroatien, werden regelmäßig als abschreckende Beispiele für Menschenrechtsverletzungen angeführt, weil Abtreibungen aufgrund der massiven Ausübung des Rechts auf Verweigerung aus Gewissensgründen nicht möglich sind. In vielen europäischen Ländern, so auch in Serbien, gibt es keine eindeutigen Daten über die Ausübung des Rechts auf Verweigerung aus Gewissensgründen bei brutalen medizinischen „Dienstleistungen“ wie der Abtreibung. Der allgemeine Eindruck von vorderster Front lässt die erschütternde Realität erkennen, dass diese medizinisch-ethische Instanz in Serbien fast nie genutzt wird. Nach den Entwicklungen auf internationaler rechtlicher und institutionell-ethischer Ebene zu urteilen, könnte sich die Situation noch verschlimmern: Statt das Recht der Mediziner auf Verweigerung aus Gewissensgründen in Serbien zu verteidigen und weiter zu stärken, könnte es sogar ganz verschwinden.

Die Verweigerung aus Gewissensgründen ist eines der Schlüsselelemente im Kampf für die Würde des menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod; vor allem in Ländern, in denen es weder eine ausreichend starke Unterstützung aus der Bevölkerung gibt, um diese Fragen zu behandeln, noch eine ausreichend entwickelte Kultur des Dialogs, um sie in der Öffentlichkeit und in der Gesetzgebung zu thematisieren. Solange es Ärzten nämlich freisteht, aus Gewissensgründen gegen ethisch problematische „Dienstleistungen“ in der Medizin Einspruch zu erheben, wird es möglich sein, diese Praktiken in der gesellschaftspolitischen Landschaft zu hinterfragen. Und solange dies möglich ist, besteht die Chance, die Kultur des Todes und des Narzissmus in eine Kultur des Lebens und der Verantwortung zu verwandeln sowie Gesetze und ethische Normen zu schaffen, die mit den Menschenrechten in Einklang stehen.

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