Es ist eine nicht enden wollende Tragödie: Weltweit sind fast 50.000 Menschen, in Italien mehr als 13.000 Menschen gestorben. Allein in der norditalienischen Region Lombardei wurden 7.500 Tote verzeichnet. Vergleichsweise sind es in Spanien etwa 10.000 Todesfälle landesweit.
Nur wenige Fahrzeuge befahren die sonst leeren Straßen Mailands und anderer wichtiger Kultur- und Handelsstädte der Lombardei: große LKWs für den Lebensmitteltransport, Krankenwagen mit heulenden Sirenen und mit Särgen beladene Militärlastwagen. In Kleinstädten, zum Beispiel in meinem Wohnort, sieht man nur wenige besorgte Menschen durch den Ort laufen oder beim Bäcker anstehen, hört man lediglich Frühlingsklänge. Die Warteschlangen vor den Lebensmittelgeschäften erinnern uns daran, wie es unseren Großeltern im Zweiten Weltkrieg erging. Die Regierung gab an die Bevölkerung Lebensmittelkarten aus, mit denen sie Brot, Mehl, Butter und Milch kaufen konnten. Gegenwärtig begegnen wir den gleichen Schlangen und Problemen, jedoch gibt es einen großen Unterschied: Wir können einander nicht umarmen und begrüßen, sondern müssen Abstand halten und uns argwöhnisch und besorgt zuwinken.
Die italienische Regierung war auf diese Notlage nicht eingestellt, war nicht vorbereitet darauf zu reagieren. Doch nun schränken die von ihr verhängten restriktiven Maßnahmen unsere bürgerlichen und demokratischen Freiheiten ein und heben das Recht auf Religionsfreiheit auf. Für uns alle, größtenteils Katholiken wie ich selbst, bedeutet der Kirchenbesuch nicht das Aufsuchen eines Ortes, sondern vielmehr die Begegnung mit einer Person, Jesus Christus, der im Tabernakel lebendig und wahrhaftig zugegen ist. Dennoch scheint die Regierung die wichtige Tatsache zu ignorieren, dass unser Land überwiegend katholisch ist. Die Kirche schweigt sich zu dieser Ungerechtigkeit aus, äußert sich jedoch lautstark zum Thema Ökumenismus: buddhistische Tempel oder Moscheen seien ebenfalls Gebetsstätten und Orte der Verehrung. Indes denken wir ganz anders über unsere Kirchen: Sei es die wunderschöne Wallfahrtskirche der Muttergottes in Saronno oder ein Kirchlein auf dem Land, eine Kirche ist der Ort, an dem man Jesus Christus finden kann. Die Welt betete vergangene Woche am Hochfest der Verkündigung des Herrn (25. März) gemeinsam das „Vaterunser“. Am 27. März hielten Menschen in aller Welt inne und lauschten gemeinsam dem Papst, als er angesichts der Pandemie allen Gläubigen den außerordentlichen Segen spendete und vollkommenen Ablass gewährte. Einige glauben sogar, die Jungfrau Maria sei am Himmel über dem Petersplatz erschienen. Dies ist für jene Gläubigen ein Zeichen des Beistands und verstärkt in ihnen den Wunsch, diese Seuche und Tragödie möge bald ein Ende nehmen.
Infolge der Ausgangsbeschränkungen leben wir in der Lombardei seit dem 23. Februar eingesperrt in unseren Häusern. Um die Ausbreitung des Virus zu verhindern, kamen soziales und berufliches Leben vor über einem Monat zum Stillstand. Hätte die lombardische Regionalregierung bereits Ende Januar dazu aufgefordert, „alle nicht lebensnotwendigen Aktivitäten einzustellen und zu Hause zu bleiben“, wären wir in der Lage gewesen, Todesfälle und tragische Ereignisse wie wir sie jetzt erleben zu vermeiden. Aber dann lesen wir, dass Bürgermeister Bill de Blasio und Gouverneur Andrew Cuomo in New York anderer Meinung sind. Vielleicht verstehen sie nicht, welch tragische Erfahrung wir hier in Italien durchmachen. Sowohl Stadtoberhäupter als auch Regionalregierungen haben dringend zu Isolation aufgerufen. Unser Bürgersinn und Verantwortungsgefühl für unsere Gemeinschaft verhindern Proteste und Aufstände. Werden in New York etwa Aufstände erwartet? Liegt die Ursache dieser Probleme und Verzögerungen möglicherweise in New Yorks Status als „Zufluchtsstadt“, eine der sogenannten Sanctuary Cities? Ich finde es ironisch und traurig zugleich, dass zwei Italo-Amerikaner, Cuomo und de Blasio, anstelle einer Politik zum Schutz der öffentlichen Gesundheit Kontroversen und unsachliche populistische Debatten bevorzugen. New York sowie die anderen, von der sich rasch ausbreitenden Krankheit betroffenen US-Bundesstaaten sollten, wie von Präsident Trump vorgeschlagen, Isolation und Grenzschließungen fordern anstatt sich auf parteiische Wortgefechte einzulassen. Am Ende werden diese politischen Auseinandersetzungen nur Tränen und viele weitere Todesopfer nach sich ziehen. Ein derartiges Verhalten ist meiner Meinung nach töricht und kriminell. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Italien! Tun Sie was Lombardei, Veneto und die anderen Regionen Norditaliens getan haben statt sich auf die zögerliche Zentralregierung in Rom zu verlassen.
Im heutigen Lagebericht „aus dem Schützengraben“ möchte ich von einem guten Freund von mir erzählen, der als Mediziner in einem der größten Krankenhäuser Mailands (Policlinico) arbeitet. Er hat den Mut gehabt, seine tagtäglichen Erfahrungen im Umgang mit Schmerz, Hoffnung und Erschöpfung mit mir zu teilen. Hier ein Auszug:
„Wir hatten nur 20 Betten im Krankenhaus, aber innerhalb weniger Wochen haben wir weitere 250 Betten für Covid-19-Patienten bereitgestellt. Planbare chirurgische Eingriffe wurden vorerst eingestellt. Das Virus befällt nicht nur ältere Menschen, sondern nunmehr auch junge Leute. Der erste Tag war wie der Eintritt in eine neue Welt: in Schutzanzüge gehüllte Krankenschwestern, Patienten mit Sauerstoffhelmen. Nur wer es mit eigenen Augen gesehen hat, kann das Ausmaß der Tragödie nachvollziehen. Die Patienten sind allein, sie starren einen an. Unter den Helmen können sie nicht gut hören und sich nur schwer mitteilen, sie können weder die ärztlichen Anweisungen noch die stärkenden Worte von Ärzten und Krankenschwestern verstehen.
Die Patienten sind besorgt: „Werde ich überleben?“ „Wann kann ich nach Hause gehen?“ „Ich hoffe, ich sterbe nicht, denn ich habe eine Familie, Frau und Kinder.“ „Wie lange habe ich noch zu leben?“
Sie möchten unsere Aufmerksamkeit, sie brauchen jemanden, der ihnen zuhört. Allzu oft kommt der Tod und die Patienten sind allein. Ihre letzten Augenblicke sind furchtbar: Keine Verwandten, nicht einmal ein Priester, mit dem sie reden können. Ab dem Moment ihrer Krankenhauseinlieferung bekommen sie ihre Familien nicht mehr zu sehen. Sie können zwar mit ihnen telefonieren, aber nur so lange bis die Erkrankung ihnen die letzte Kraft nimmt. Diejenigen, die sterben, sehen ihre Liebsten im Himmel wieder. Diejenigen, die überleben, sehen ihre Familien nach drei Wochen Pflege und Behandlung wieder. Wenn der Tod nahe ist, werden den Patienten Beruhigungsmittel verabreicht, Ärzte und Krankenschwestern begleiten sie bis zu ihrem letzten Atemzug. Eine liebevolle Geste, ein Händedruck vom Arzt kann die Patienten beruhigen und ihnen den Übergang vom Leben zum Tod erleichtern. Dennoch bleibt immer eine Lücke, die nur Freunde, Familie und Pfarrer füllen können. Wenn ein Mensch stirbt, kommt der Leichnam in einen Sack und dann sofort in einen Sarg. Es ist wie in Vietnam.
Es war ein Lichtblick, als unser Mailänder Bischof am Tag der Verkündigung draußen vor dem Klinikum allen einen besonderen Segen aussprach. Einige Patienten konnten sogar aufstehen, um ihn zu empfangen. Zahlreiche Ärzte, Krankenschwestern und Pflegekräfte nahmen im Anschluss an einem Gottesdienst in der Krankenhauskapelle teil. Eine Linderung, eine Verschnaufpause im täglichen Kampf gegen das Virus. Es ist traurig, ohne menschlichen, geistlichen und familiären Beistand zu sterben, aber zumindest hatten wir in diesem Augenblick einen kleinen Hoffnungsschimmer.
Viele Menschen sterben, auf den Stationen sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld. Läuft man durch die Korridore, weiß man nie, was einen hinter der nächsten Ecke erwartet. Es bleibt keine Zeit, Frauen und Männer räumlich getrennt unterzubringen. Doch hält die Vorsehung immer eine Überraschung bereit. Vor einigen Tagen wurden ein Mann und eine Frau in dasselbe Zimmer eingewiesen: ein Priester und eine Nonne. Zufall oder göttlicher Wille? Das Zimmer ist inzwischen nicht nur für Ärzte und Krankenschwestern sondern auch für andere Patienten zum Bezugspunkt geworden. Wir alle wissen, dass die Personen in diesem Zimmer beten und Menschen Gottes sind. Und das gibt uns allen Kraft.
Es besteht Hoffnung für alle.
Ich schicke Ihnen von vorderster Front, aus dem Schützengraben in der Lombardei, unsere Umarmung. Bleiben Sie gesund. Und vielen Dank an Präsident Trump und an alle Amerikaner für Ihre humanitären Spenden.
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