Das Ende der Debattenkultur

Diskursatmosphäre heute wird von Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, einer Welle öffentlicher Anprangerung und Ausgrenzung dominiert.

Ein offener Brief über Gerechtigkeit und offene Debatte sorgt für frischen Wind – Menschen mit komplett verschiedenen Weltanschauungen wagen einen mutigen Schritt und machen in einer gemeinsamen Stellungnahme auf die Gefährdung des öffentlichen Diskurses aufmerksam.

Die Zeitschrift Harper‘s veröffentlichte am Dienstag einen „offenen Brief über Gerechtigkeit und offene Debatte“ als einen Aufruf zum „freien Austausch von Informationen und Ideen, dem Herzblut einer liberalen Gesellschaft“, der laut Unterzeichner des Briefes „mit jedem Tag mehr und mehr eingeengt wird“. Der Brief wurde von zahlreichen Künstlern, Intellektuellen und führenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterzeichnet, darunter David Brooks, Salman Rushdie, Margaret Atwood, Gloria Steinem, David Frum und J.K. Rowling – Linke und Neokonservative, Schwarze und Weiße, Männer und Frauen, Trans-, Homo- und Heterosexuelle sind allesamt vertreten.

Der kurze Brief umfasst gerade einmal drei Absätze und beginnt folgendermaßen: „Unsere Kulturinstitutionen stehen vor einer Prüfung. Heftige Proteste gegen Rassismus und für soziale Gerechtigkeit führen zu überfälligen Forderungen nach einer Polizeireform, sowie zu Rufen nach mehr Gleichberechtigung und Eingliederung in unserer Gesellschaft . . .“ Doch ist am Rande dieser Zerrüttungen eine neue Denkweise entstanden, die dazu neigt „die Regeln der offenen Debatte und die Toleranz von Differenzen zugunsten einer ideologischen Konformität zu schwächen“.

Den Unterzeichnern zufolge seien derartige Angriffe auf die Redefreiheit „etwas, das man gewöhnlich von der radikalen Rechten erwarten würde“, jedoch ist derzeit eine Ausbreitung von „Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, eine Welle öffentlicher Anprangerung und Ausgrenzung sowie die Tendenz, komplexe politische Fragen in blinde moralische Gewissheit aufzulösen“, zu beobachten. „Diese erstickende Atmosphäre“, schließt der Brief, „wird letzten Endes den maßgeblichen Anliegen unserer Zeit schaden“.

Der Brief hat sich rasch verbreitet und Berühmtheit erlangt, von einigen wurde er als beleidigend und ärgerlich bezeichnet. Für Jeff Yang von CNN  ist der Brief „allenfalls eigennützig und elitär“. Einer der Unterzeichner des Briefes, der bekannte schwarze Intellektuelle Gregory Pardlo, äußerte sich dazu in der New York Times: „Es scheint, dass sich die Debatte vielmehr darum dreht, wer den Brief unterschrieben hat, nicht was der Brief inhaltlich thematisiert.“ Dass sich unter den Unterzeichnern auch J.K. Rowling befindet, hat die Gemüter besonders erregt. Die Autorin geriet vor kurzem aufgrund ihrer Äußerungen zur Realität des biologischen Geschlechts unter heftigen Beschuss (wie iFamNews berichtete), und führte in den Reihen der Transgender-Aktivisten rund um den Globus zu heftigem Widerstand. In der Tat postete die beim Nachrichtenportal Vox tätige Transgender-Kritikerin Emily VanDerWerff als Antwort auf den offenen Brief einen eigenen Brief auf Twitter und unterstrich gerade dadurch die Aussage des offenen Briefes. In ihrem Schreiben, welches sie zuvor an ihre Redaktion geschickt hatte, beschwert sich VanDerWerff darüber, dass ihr Kollege, Vox-Mitarbeiter Matthew Yglesias, den ‚offenen Brief über Gerechtigkeit und offene Debatte’ unterzeichnet hat. Einige Unterzeichner haben einen Rückzieher gemacht und behauptet, sie wüssten nicht, wer die übrigen Unterzeichner waren.

Man kann die ganze Angelegenheit als interessanten Kommentar zum aktuellen Stand der Debattenkultur in Amerika betrachten, wenn selbst führende linke Intellektuelle argumentieren, dass das „public shaming“ im Internet und die Ächtung jeglicher Meinungsverschiedenheit zu weit gegangen sind. Wie die Reaktionen auf diesen Brief beweisen, sind selbst politisch-kulturell linksgerichtete Zugehörigkeit und Überzeugung einiger Unterzeichner nicht ausreichend, um sie vor Angriffen zu schützen. Man nehme das Beispiel von VanDerWerff. Sie kritisiert die Unterschrift eines angesehenen Arbeitskollegen zum Einen aufgrund der angeblichen „Hundepfeif-Politik in Richtung Anti-Trans-Ansichten“ zum Anderen aber auch, weil sich Yglesia durch die Unterzeichnung des Briefes mit „mehreren prominenten Anti-Trans-Anhängern“ verbündet habe. Kern der Botschaft: Wir sollten den Umgang mit Menschen meiden, die Einwände gegen unsere eigene Meinung haben.

Die Linke hat der Pro-Life-Bewegung oft vorgeworfen, sie schließe alternative Familienformen aus, oder (wie in diesem Brief) der „radikalen Rechten“ den Vorwurf gemacht, sie seinen diejenigen, die die Debatte beenden. Doch historisch gesehen zeichnet sich die Pro-Life-Bewegung durch bemerkenswerte Inklusion und Vielfalt aus. So setzt sie sich, über Verschiedenheiten hinwegsehend, für die Förderung von Ehe, für die Verbesserung der Lebensumstände von Kindern sowie für den Anspruch aller Menschen auf Religionsfreiheit ein. Der Brief über Gerechtigkeit und offene Debatte sorgt für frischen Wind – Menschen mit komplett verschiedenen Weltanschauungen wagen einen mutigen Schritt und machen in einer gemeinsamen Stellungnahme auf die Gefährdung des öffentlichen Diskurses aufmerksam. Demnach „zahlen wir bereits einen hohen Preis, denn Schriftsteller, Künstler und Journalisten gehen kein Risiko mehr ein, weil sie um ihren Lebensunterhalt fürchten müssen, sobald sie vom Konsens abweichen oder nicht genügend Zustimmungseifer bekunden“.

Und dennoch gibt es bereits Strömungen, die behaupten, die Forderung nach freier Meinungsäußerung sei ein radikaler Akt, und der Zusammenschluss mit andersdenkenden Menschen zwecks Vermittlung einer gemeinsamen Botschaft sei ein gefährlicher Schachzug.

Hoffentlich werden die Gegenreaktionen auf den Brief die Notwendigkeit der darin enthaltenen Botschaft deutlich machen.

Die mobile Version verlassen