US-Soziologiestudie: Haustieren werden mehr Rechte zugesprochen als Kindern

Aus Beobachtungen in einer Tierklinik, Dutzenden von Interviews mit Tierhaltern und einer Analyse von zig Werbeanzeigen, geht hervor: „es liegt auf der Hand, dass Haustiere mehr sind als einfache ‚Familienmitglieder’“.

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Andrea Laurent Simpson ist Soziologin und Forscherin an der Southern Methodist University (SMU) in Dallas, USA. Sie ist Autorin des Buches „Teil der Familie. Wie das Haustier Einzug in unsere Häuser fand“ [aus dem Englischen übersetzt; Original-Titel: Just Like Family: How the Companion Animal Joined the Household], in dem sie einen Teil ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse beschreibt. „Nach 100 Stunden Beobachtung in einer Tierklinik, Dutzenden von Interviews mit Tierhaltern und einer Analyse von zig Werbeanzeigen, von denen die Medien voll sind“, kommt sie zu dem Schluss, dass „es auf der Hand liegt, dass Haustiere mehr sind als einfache ‚Familienmitglieder’“.

Bis hierhin ist alles richtig und nachvollziehbar, genauso wie es die Kampagnen sind, die jeden Sommer auf Plakaten entlang italienischer Autobahnen zu sehen sind: Tiere auszusetzen ist falsch, grausam und kriminell. Wer einen Welpen zu Weihnachten verschenkt und ihn dann im Juli entsorgt, ist ein Unmensch und begeht ein Verbrechen. Dem können wir nur beipflichten. Auch wenn die Liebe zu einem Tier, für das wir gesorgt haben, keine Selbstverständlichkeit ist, sind es aber Verantwortung und Respekt. Ohne Ausnahme. Wir sprechen hier von Lebewesen, damit das klar ist.

Der Artikel, den Andrea Laurent Simpson kürzlich auf Fox News veröffentlicht hat, verfolgt jedoch einen anderen Ansatz. Die Autorin spricht über Haustiere, in der Regel Hunde und Katzen, die als Kinder angesehen und entsprechend behandelt werden. Oder besser gesagt, an die Stelle von Kindern treten.

Laurent Simpson spricht in diesem Zusammenhang von Familienmitgliedern „unterschiedlicher Spezies“, d.h. von Familien, die aus Menschen und Tieren bestehen, in denen über die angemessene Pflege und Fürsorge der Haustiere hinaus auch die Laster und Launen der Tiere Beachtung finden.

Dagegen ist nichts einzuwenden: Jeder verwendet  seine Zeit und sein Geld, wie er will. So gibt es zum Beispiel auch hierzulande eine Vielzahl von „Hundebäckereien“, die rund um die Uhr liefern, oder aber Spezialgeschäfte, die Modeaccessoires für „schicke“ Haustiere anbieten.

Laurent Simpsons Analyse geht noch weiter: Das entzückende, launische und liebevolle Haustier nimmt immer mehr die Rolle eines Familienmitglieds, einer Person, ein. Eines Menschen.

Es gibt keine Grenzen. Letztendlich lösen die „pelzigen Freunde“ Gefühle und Empfindungen in einem aus, die man normalerweise einem Menschen entgegenbringen würde: im engeren und weiteren Sinne die Fürsorge, Liebe, Pflege und Erziehung der eigenen „Kinder“.

Dafür gibt es viele Gründe, erklärt die Soziologin: Die demografische Krise, die Wirtschaftskrise, die Coronakrise. Die zunehmend vereinsamte und frustrierte Menschheit, die nicht mehr den Mut und die körperlichen Voraussetzungen (verzeihen Sie die Ausdrucksweise) hat, ein Kind zu zeugen und sich um es zu kümmern, „greift“ auf das Haustier zurück. Es mangelt mir nicht an Respekt oder Empathie für diejenigen, die in Gesellschaft und Gegenwart eines Haustieres Trost finden. Solange klar ist, dass es sich um ein Haustier handelt, das anhänglich, intelligent, süß ist. Aber eben kein Mensch.

Jedoch, so heißt es in dem Artikel weiter, „überstiegen – inmitten einer globalen Pandemie – im Jahr 2020 die Ausgaben in den USA für diese Familienmitglieder 103 Milliarden Dollar, was ein Anstieg um 6 Milliarden Dollar gegenüber 2019 bedeutet“. Und schon bekommt das Thema einen weniger schönen Anstrich. Dies geschieht in einer Zeit, in der sich die demografische Krise – gerade wegen der Pandemie – weiter verschärft hat und viele Paare und Familien nicht genug Geld und Möglichkeiten zu haben glauben, um ein Baby zu bekommen.

Für alle jene Leser, die sich wie ich selbst für die Verflechtung von Sprache und Gesellschaft interessieren, ist die Art und Wiese, wie Tierhalter und Haustiere bezeichnet werden, besonders interessant. Zum einen „Hundemama“, „Mutti“, „Papa“ (aber auch „Oma/Opa“ und „Brüderchen“ bzw. „Schwesterchen“) und zum anderen „Kind“, „Kuschelbär“ und „unser Kleiner“. Laurent Simpson zufolge beweist diese Entwicklung, dass die amerikanische Gesellschaft Haustieren mehr Beachtung entgegen bringt, die ein wichtiger Bestandteil der Familie geworden sind, dabei jedoch „vermenschlicht“ worden sind.

Andrea Laurent Simpson setzt ihre Analyse fort und regt zum Nachdenken an: Die Haustierhaltung hat auch in wirtschaftlicher Hinsicht beträchtliche Ausmaße angenommen. Angeblich verlangen in den USA Angehörige der Generation Z (der zwischen 1995 und 2010 Geborenen) und der Generation der Millennials (1980-1990) von ihren Arbeitgebern, die Bedürfnisse der so genannten Multispezies-Familien zu berücksichtigen, analog zum Wunsch der natürlichen Familie in Bezug auf die Betreuung von Säuglingen und Kindern (schön wär’s). Konkret ist von pet-at-work die Rede, d.h. die Haustiere an den Arbeitsplatz mitbringen zu dürfen, und von der Einrichtung betriebsinterner „Tierkindergärten“.

Wenn ein Kind weniger Rechte und weniger Bedürfnisse zu haben scheint als ein „pelziger Freund“, dann hat die Gesellschaft, ehrlich gesagt, weit über das Ziel hinaus geschossen.

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