Die Entstehung der internationalen Menschenrechtsnormen war zweifellos ein großer Fortschritt für die Menschheit, da sie als Reaktion auf so dramatische Ereignisse wie den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust entstanden. So wurden in aufeinanderfolgenden Abkommen verschiedene Rechte festgesetzt, zu deren Umsetzung sich die Staaten gegenüber ihren Bürgern verpflichteten. Auf diese Weise sollte die Macht der Regierenden eingeschränkt werden. Gleichzeitig wurden verschiedene ausländische Gremien eingerichtet, die mögliche Missbräuche der Machthaber zumindest anprangern konnten.
Analysiert man die vor etwa zwanzig Jahren unterzeichneten Abkommen – sowohl die nationalen als auch die universellen -, so stellt man fest, dass der Inhalt äußerst interessant und intelligent ist (wenn auch in einigen Fällen recht unrealistisch), denn die Verträge waren vom aufrichtigen Willen zum Schutz des Einzelnen beseelt. Daher wurden sie von vielen Staaten, zumindest in der freien Welt, unterzeichnet, und auch weil es gegenüber der internationalen Gemeinschaft problematisch war, dies nicht zu tun. Bei den neueren Verträgen ist die Frage in vielen Fällen strittig.
Dies erklärt auch, warum diese „klassischen“ Verträge in vielen Ländern immer wieder herangezogen werden, sei es als Anregung für Gesetzesentwürfe, sei es als Grundlage für Urteilssprüche.
Allerdings – und das wird in der Regel nicht beachtet – haben sich die Dinge in den letzten Jahrzehnten stark weiterentwickelt, so dass sich die ursprünglichen Inhalte im Laufe der Zeit mitunter stark verändert haben. So sehr, dass es manchmal schwerfällt zu glauben, dass bestimmte Inhalte zu dem Vertrag gehören, aus dem sie sich ableiten.
Der Grund für diese Entwicklung liegt in der Tatsache, dass jedes Menschenrechtsabkommen einen internationalen Wächter hat, der durch den Vertrag selbst geschaffen wurde: eine Kommission oder einen Ausschuss oder ein Gericht. In der Praxis bedeutet dies, dass das jeweilige Gremium die Auslegung des Abkommens allein für sich beansprucht und mitunter erheblich manipuliert.
Man muss also sehr vorsichtig sein, wenn man sich auf ein Abkommen beruft, denn aufgrund des gerade beschriebenen Mechanismus kommt dem eigentlichen Wortlaut, ebenso wie den Absichten der Verfasser zum Zeitpunkt der Ausarbeitung, immer weniger Bedeutung zu. All dies wird durch die „Auslegung“ in den Hintergrund gedrängt. Um herauszufinden, was das Abkommen in der Praxis bedeutet und wie es angewandt wird, bedarf es einer Analyse der von den Wächter-Gremien erstellten Dokumente.
Bei den internationalen Gerichtshöfen muss man die Urteilssprüche zur Auslegung des Abkommens untersuchen, was auch Aufschluss über die Entwicklung dieser Arbeit gibt. Im Falle der Ausschüsse oder Kommissionen muss man die von ihnen veröffentlichten Dokumente analysieren (z. B. die Jahresberichte zur Menschenrechtslage, die sie auf internationaler Ebene oder in Bezug auf ein bestimmtes Land überwachen), um zu verstehen, wie das jeweilige Gremium ihr Abkommen interpretiert.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die von diesen Kommissionen und Ausschüssen herausgegebenen Dokumente in der Regel für die einzelnen Rechtsstaaten nicht verbindlich sind, da sie zum sogenannten „soft law“ zählen. Auch wenn sie in der Praxis nicht rechtsverbindlich sind (trotzdem tun einige Gremien so, als ob sie es wären), sind die Übereinkünfte und Absichtserklärungen aus dem „soft law“ viel wichtiger, als man vielleicht denkt. Denn sie zeigen, wie dieses Gremium das Abkommen, dessen Wächter es ist, versteht und „sieht“ (daher ist es irreführend, sich nur an den exakten Wortlaut des Vertrages zu halten). Gemäß dieser Standpunkte wird das Gremium die bestehende Situation in einem bestimmten Land oder auf globaler Ebene beurteilen.
Im Grunde genommen wird also der ursprüngliche Wille der Staaten, die einen Menschenrechtsvertrag – sei es auf nationaler oder universeller Ebene – geschlossen haben, durch den Willen dieser Wächtergremien, die ihn zu vertreten vorgeben, ersetzt, was letztlich dazu führt, dass die Weiterentwicklung der Auslegung und der Anwendung dieser Verträge mehr und mehr von oben beherrscht wird. Oder, wenn man so will, wird der Eckpfeiler des Völkerrechts, pacta sunt servanda („Verträge sind einzuhalten“), der der Ursprung verbindlicher Verträge war, durch diese soft law Bestimmungen ersetzt.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Mitglieder dieser Gremien von niemandem kontrolliert werden (da es keine Gewaltenteilung wie in Nationalstaaten gibt) und auch keine Rechenschaft über ihre Arbeit ablegen müssen, sobald sie abgeschlossen ist. Zudem haben die Bürger keinen Einfluss auf die Ernennung der Mitglieder. Diese ist in der Regel das Ergebnis politischer Verhandlungen, die von den Außenministerien der beteiligten Länder geführt werden.
Um die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Alle aufgeführten Aspekte zeigen, dass man sehr vorsichtig sein muss, wenn man sich auf ein internationales Menschenrechtsabkommen beruft. Denn egal wie logisch und fundiert die eigene Auslegung auch sein mag, sie ist in der Praxis für die mit der offiziellen Exegese des Vertrags beauftragten Stellen möglicherweise wertlos. Die Bezugnahme auf ein Abkommen könnte also einen Boomerang-Effekt auf die Person haben, die sie ausspricht. Das ist eine sehr bedauerliche Situation, der man sich aber unbedingt bewusst sein muss.
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