Die Konsequenzen Bidens Versagen: Humanitäre Krise und Flüchtlingsstrom aus Afghanistan

Die humanitäre Krise aus Sicht eines Akteurs in der internationalen Zusammenarbeit. Interview mit Emmanuele Di Leo.

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„Man kann nicht mit Menschenleben spielen, als handele es sich um eine Partie Risiko“: Das sind die bitteren Worte von Emmanuele Di Leo, Vorsitzender von Steadfast, einer italienischen Hilfsorganisation, die vor allem in Afrika mit zahlreichen Entwicklungsprojekten zur Förderung und Verteidigung der grundlegenden Menschenrechte tätig ist. In einem Telefon-Interview hat Di Leo iFamNews von den Erfahrungen erzählt, die er zusammen mit seinen Kollegen angesichts der dramatischen Ereignisse, die Afghanistan erschüttern, erlebt hat und immer noch miterlebt.

Es ist weithin bekannt, was sich in Afghanistan abspielt. Das Land, das erst die sowjetische Besatzung im Jahr 1979 und dann seit 1989 die Taliban-Herrschaft ertragen musste, erlebte nach der Stationierung US-amerikanischer und europäischer Truppen von 2001 bis heute eine Phase der vermeintlichen Öffnung zu einer unter manchen Aspekten eher westlichen Lebensweise. Mit dem Abzug der Truppen, der am 31. August vollständig abgeschlossen sein wird, wird Afghanistan erneut ins Chaos gestürzt. Die Taliban, die in Wirklichkeit nie aufgegeben hatten, haben Kabul fast ohne Waffeneinsatz eingenommen, wodurch die Bevölkerung des gesamten Landes über Nacht in Angst und Schrecken versetzt wurde.

Vor allem Frauen und Kinder sind betroffen, ebenso wie die Menschen, die in den letzten zwanzig Jahren mit dem Westen zusammengearbeitet haben, ganz gleich auf welche Art und Weise: Allen voran Dolmetscher, aber auch einfache Arbeiter, zum Beispiel die Reinigungskräfte oder Pförtner medizinischer Einrichtungen.

Zu den in der Region anwesenden Ausländern zählen nicht nur Angehörige der Streitkräfte, darunter auch italienische Truppen, sondern auch die zahlreichen Mitarbeiter der humanitären Organisationen, die tagtäglich der Bevölkerung und insbesondere den Frauen medizinische Versorgung, Bildungsangebote und Mikrokredite zur Verfügung stellten.

Emmanuele Di Leo, Vorsitzender von Steadfast

Was geschieht nun mit diesen Menschen, Herr Di Leo?

Bis zum 31. August muss der Rückzug aller aus dem Westen stammenden Ausländer abgeschlossen sein. Einige wenige werden sicherlich bleiben, allerdings ist die unermüdliche Arbeit so vieler Menschen und Organisationen – die in schweren humanitären Krisensituationen, wie sie schon in der Vergangenheit in Afghanistan herrschten, immer die Ersten vor Ort sind und die Letzten die abreisen – durch das fast vollständige Scheitern dieser überstürzten Truppenrückführung zunichte gemacht worden.

Die afghanische Bevölkerung steht somit gegenüber den Taliban, die die Macht zurückerobert haben, alleine da….

Genau, und es wurde eine regelrechte Menschenjagd eingeleitet, vor allem auf Frauen. Italien hat 4.900 Flüchtlinge aufgenommen, davon 2.200 Frauen und Kinder. Die Taliban gehen von Haus zu Haus und führen regelrechte Großrazzien im Land  durch, so dass es kaum noch Mädchen über 12 Jahren oder Frauen gibt, mit Ausnahme der Alten, die nicht von den Taliban getötet oder versklavt worden sind. In Kabul vielleicht weniger, aber im Rest des Landes gehen sie mit Sicherheit mit großer Grausamkeit vor.

Wie sind diese Menschen nach Italien gekommen?

Dank eines humanitären Korridors durch das italienische Militär. Sie haben Flüge von Kabul über Kuwait und Islamabad nach Rom organisiert, um die Flüchtlinge in Sicherheit zu bringen. Es ist eine gewaltige und riskante Mission gewesen, bei der Militär und Hilfsorganisationen eine wichtige Aufgabe erfüllt haben, nicht zuletzt aufgrund der raschen Verschlimmerung der Situation: Aus einer ernst zu nehmenden Krise ist innerhalb von 24 Stunden eine Notlage geworden. Bitter ist auch die Tatsache, dass die westlichen Behörden nicht auf diesen Notfall vorbereitet waren, obwohl sie dies hätten vorhersehen müssen.

Wie war die Vorgehensweise?

Ich kann Ihnen viele gute Beispiele nennen, etwa Luca Lo Presti, Vorsitzender der Stiftung Pangea Onlus, einer Organisation, die seit 2003 mit großem Engagement und viel Energie in Kabul tätig ist und in den letzten Tagen Hunderte von Menschenleben gerettet hat, so wie viele andere vor Ort tätige Hilfsorganisationen. Wir von Steadfast haben uns – im Bündnis mit anderen Organisationen, die wie wir in problematischen Regionen arbeiten – an das Europäische Parlament gewandt und mehrere Europaabgeordnete gebeten, an Präsident David Sassoli zu appellieren, auf dass er in Zusammenarbeit mit den in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen sichere humanitäre Korridore öffne. Die Einrichtung der Luftbrücke hat sich natürlich als eine komplexe Operation erwiesen, nicht zuletzt aufgrund der Gefahr, dass sich mögliche Terroristen unter die Flüchtlinge mischen könnten. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, auf den ich hinweisen muss: Die Menschen, die gerettet worden sind, waren wirklich in Gefahr und sind „ungefährliche“ Personen, da sie zwanzig Jahre lang mit den westlichen Botschaften zusammengearbeitet haben oder von den verschiedenen Hilfsorganisationen im Land betreut worden sind. Es handelt sich nicht um Wirtschaftsflüchtlinge, sondern um Flüchtlinge im völkerrechtlichen Sinn. Als solche genießen sie internationalen Schutz, der gewährleistet werden muss.

Was geschieht als nächstes, jetzt wo diese Menschen in Italien angekommen sind?

Gegenwärtig wurden wegen der anhaltenden Pandemie Quarantänelager in Militärstützpunkten eingerichtet. In der Zwischenzeit arbeitet der Krisenstab, in Zusammenarbeit mit den italienischen Gemeinden, mit Hochdruck an der Einrichtung von Aufnahmezentren, um die Flüchtlinge unterzubringen, zu betreuen und schrittweise in die italienische Gesellschaft zu integrieren. Erfreulicherweise stellen sowohl zahlreiche Bürgermeister als auch viele Bürgerinnen und Bürger ihre Kapazitäten zur Verfügung. Es herrscht ein Gefühl von Solidarität, das trotz der Tragik der gegenwärtigen Situation Trost spendet. Wir von Steadfast haben uns sofort an die Arbeit gemacht und verschiedenen Gemeinden unsere Hilfe bei der Planung von Sammelunterkünften angeboten.

In diesem afghanischen Exodus besonders erschütternd anzusehen, waren die Mütter, die ihre Kinder den Soldaten hinstreckten bzw. den wenigen Menschen, denen es gelang, die Absperrung am Eingang des Flughafens von Kabul zu überwinden, in der Hoffnung, diese können ihre Kinder in Sicherheit bringen…

Die in den Medien gezeigten Bilder sind herzzerreißend, doch sie entsprechen der Wirklichkeit. Im Moment, muss man ganz hart sagen, hat es Vorrang, ihre Leben zu retten. Später können wir nach einer Möglichkeit suchen, die Familien wieder zusammenzuführen, was wir natürlich alle hoffen. Auch deshalb ist es so wichtig, dass der Westen, obwohl er seine Truppen abgezogen hat, nicht einfach verschwindet, die Hilfskorridore nicht abriegelt, das afghanische Volk nicht in der Isolation zurücklässt, in die sich Afghanistan zwangsweise begibt. Es handelt sich um eine humanitäre Katastrophe, in der grundlegende Menschenrechte ignoriert, verletzt und mit Füßen getreten werden.

Was also ist und was wird die Aufgabe Europas sein?

Der Westen als Ganzes hat die Pflicht, grundlegende Menschenrechte zu fördern und zu schützen, die als solche allen Menschen zustehen müssten, unabhängig davon, wo sie geboren sind und welchem Land sie angehören. Der Westen muss darüber nachdenken, was mit dem bisherigen System falsch gelaufen ist, steht doch Afghanistan nach zwanzig Jahren harter Arbeit wieder am Anfang oder vielleicht sogar in einer noch schlimmeren Ausgangslage. Es hat keinen Sinn, darüber zu streiten und zu debattieren, ob es richtig ist, „Demokratie zu exportieren“, auch wenn man manchmal den Eindruck hat, dass die westlichen Länder eher dazu neigen, Dinge aufzuzwingen als zu kooperieren und zusammenzuarbeiten. Nur eine echte Zusammenarbeit und die uneingeschränkte Achtung der Menschenrechte können Hilfe bringen und eine Entwicklung fördern.

Gerade in Bezug auf Europa ist es notwendig und unabdingbar, dass es sich in erster Linie als Institution, als uneigennütziger Zusammenschluss von Ländern versteht und nicht als bloße Ansammlung von wirtschaftlichen und finanziellen Interessen. Sie muss sich als geeinte Kraft verstehen und dabei Individualismus, Egoismus und Parteinahme überwinden. Sie muss sich als Zusammenschluss von Nationen sehen, zu deren wichtigsten Zielen die Verteidigung der Menschenrechte und die Gewährleistung humanitärer Hilfe gehören.

Genau diesen Appell möchten wir von Steadfast aussprechen: Italien kann und darf Afghanistan und seine Bevölkerung nicht ihrem Schicksal überlassen, sondern hat die moralische Pflicht, die eigene Zusammenarbeit und humanitäre Unterstützung zu bedenken.

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